Innere Unruhe überwinden: Praktische Schritte zur Selbstfindung

Jul 21, 2024

Es gibt Leute, die nie ruhig sitzen können. Nie mit sich alleine sein können. Ständig verspüren sie den Drang, etwas zu tun und zu erleben; und wenn es nur der Griff zum Smartphone ist, um sich etwas Unterhaltsames anzusehen, oder mit jemanden Nachrichten auszutauschen.
Denn sobald sie still sitzen, überkommt sie dieses unangenehme Gefühl; diese innere Unruhe.

In diesem Artikel möchte ich nicht nur genauer darauf eingehen, warum wir uns ablenken; ich möchte dir auch praktische Schritte vorstellen, die du noch heute im Alltag anwenden kannst, um zu lernen, das Gefühl der innere Unruhe zu überwinden.

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Elektroschocks als Ablenkung

Vielleicht hast du von der Studie von Timothy Wilson aus dem Jahre 20141 gehört, in der Teilnehmer dazu aufgefordert wurden, in einem leeren Raum für etwa 6-15 Minuten mit ihren Gedanken alleine zu sein. Der einzige Gegenstand, der sich zur Ablenkung in diesem Raum befand, war ein Elektroschocker.

Es gab tatsächlich Menschen, die sich in dieser kurzen Zeitspanne lieber selbst leichte elektrische Schocks zufügten, als sich ihren Gedanken hinzugeben. Und zwar ganze 67% der Männer und 25% der Frauen.

Sobald wir uns unwohl fühlen, suchen wir nach Möglichkeiten uns abzulenken. Manche Menschen packen jede Sekunde ihres Tages mit Aktivitäten voll, und selbst wenn sie in die Natur zum Joggen gehen, beschallen sie ihren Verstand mit Informationen oder Musik; alles um dieses Unwohlsein zu übertünchen.

Und diese Stimme, die irgendwie immer im Hintergrund zugegen ist und die fragt: Was könnten wir tun, um uns besser zu fühlen? Und was jetzt? Und jetzt?

Es gibt eine andere Frage, die wir uns stellen können, wenn wir diese Unruhe und dieses Unwohlsein fühlen. Sie lautet: »Warum fühle ich mich nicht wohl?«

Warum fühlen wir uns unwohl?

Mit dieser Frage wollen wir uns mit der wahrhaftigen Ursache auseinandersetzen, nicht nur mit der scheinbaren. Es liegt nämlich nicht wirklich daran, dass wir keinen Partner, keine Kinder, kein Geld oder keine großartige Karriere haben, oder dass wir nicht schön oder erfolgreich genug sind, dass wir uns unwohl fühlen.

Das mag auf den ersten Blick der Grund sein, weil wir von allen Seiten permanent mit Bildern bombardiert werden, die uns weismachen wollen, dass das der Schlüssel zum Glück ist. Doch viele Menschen haben all das und dennoch sind sie nicht vor dem unangenehmen Gefühl der inneren Unruhe gefeit.

Gerade in Zeiten der sozialen Medien, in denen es darum geht eine Illusion aufrechtzuerhalten, die in uns ein Verlangen entfachen und uns damit zu einer Kaufkraft machen soll, steht die Selbstinszenierung an erster Stelle.

Man präsentiert sich so, wie man sich am liebsten sehen möchte: schön, beliebt, erfolgreich, erfüllt. Aber ein Kommentar reicht, um uns zu verunsichern, und die Fassade, die wir mühevoll aufgebaut haben, bröckelt.

Wenn dich etwas verunsichert oder jemand etwas tut, das Unbehagen in dir auslöst, stelle dir nicht die Frage: Was kann ich tun, damit diese Person anders von mir denkt oder sich anders verhält? Das ist sinnlos. Du könntest ein Handbuch schreiben, in dem du auflistest, wie sich andere dir gegenüber verhalten sollen, und es jedem, der mit dir interagiert, geben – aber glaubst du wirklich, dass jemand das lesen oder sich daran halten würde? Jeder hat schließlich sein eigenes Handbuch, in dem er fordert, wie du und die anderen sich verhalten sollen.

Stattdessen frage dich lieber:

  • Warum stört mich das?
  • Warum regt mich das auf?
  • Warum frustriert mich das?

Das ist ein großer Unterschied.

Es geht darum, zu verstehen, warum der Umstand dein inneres Milieu verändert hat, anstatt zu überlegen, wie du den Umstand ändern könntest.

Warum z. B. reagieren manche Menschen sofort defensiv und fühlen sich verletzt und kritisiert, wenn sie Feedback von ihrem Chef erhalten, während andere sich darüber freuen, dass sich ihr Chef überhaupt die Zeit nimmt, ihnen Tipps zu geben, wie sie sich verbessern können?

Und kann ich, wenn ich derjenige bin, der sich gekränkt und frustriert fühlt, eine andere innere Haltung einnehmen, mit der ich mich besser fühle?

Die gute Nachricht ist, ja, es ist möglich, aber leider lässt sich dafür nicht einfach ein Schalter umlegen.

 

Verstehen ≠ Loslassen

Um das zu veranschaulichen: Denke an jemanden, der Klavierspielen lernt; er wird nicht sofort ein technisch anspruchsvolles Stück von Beethoven lernen. Zuerst muss er Fingerübungen machen, um Beweglichkeit und Koordination zu verbessern, und er wird viel üben müssen, um ein gewisses Niveau zu erreichen.

Vielleicht lernst du eine Fremdsprache. Dann weißt du selbst, wie lange es dauert, bis man nicht mehr jedes Wort mühsam verstehen muss, sondern intuitiv erfassen kann, worum es in einem Gespräch geht, geschweige denn, bis man sich mühelos ausdrücken kann. Und dabei geht es nicht nur um Veränderungen im Gehirn, denn auch Zunge und Muskulatur müssen sich an die neue Aussprache anpassen und gewöhnen.

All dies erfordert Zeit. Und ebenso ist das mit der inneren Arbeit an unserem Denken und unseren Emotionen.

Wie oft höre ich den Satz: »Ich verstehe das alles, was du erklärst, aber wenn ich in eine Situation komme, die mich triggert, dann rege ich mich trotzdem auf oder werde traurig. Das bringt also nichts. Oder es funktioniert nicht.«

Stell dir vor, der Klavierschüler sagt zu seinem Lehrer: »Ich habe verstanden, was ich tun soll, aber wenn ich mich ans Klavier setze, dann klappt das mit dem Spielen nicht.« Der Lehrer fragt: »Hast du denn jeden Tag geübt? Spielst du deine Tonleitern?«
»Nein, aber ich habe ganz genau verstanden, was die rechte und was die linke Hand für eine Funktion haben und spielen sollen. Aber sie tun es nicht, in dem Moment, da ich möchte, dass sie es tun.«

Es reicht leider nicht aus, dass du mit deiner Logik verstanden hast, woher dein Unwohlsein kommt.

Es reicht nicht aus, zu verstehen, dass du überreagierst, weil dein Selbstwertgefühl beeinträchtigt ist oder weil deine Eltern dich in der Kindheit nicht ernst genommen haben.
Es reicht nicht aus, zu wissen, dass du diese Dinge loslassen musst, um nicht mehr überzureagieren.

Ich war einmal bei einem Kollegen hospitieren; er war eine wirkliche Koryphäe auf dem Gebiet der Implantologie, und dort war ein Vertreter, der für uns jüngere Kollegen diese Hospitation organisiert hatte. Der Vertreter erklärte uns nicht nur alles über das Implantatsystem, sondern über das Implantieren, die einzelnen Schritte, worauf man achten musste, was man nicht tun dürfe usw. Er sprach so, als würde er es jeden Tag machen, dabei hatte er in seinem ganzen Leben noch nie ein Implantat im Mund eines Patienten gesetzt.
Ich erinnere mich noch an mein Gefühl damals, als ich diese perfekt einstudierte Rolle sah, die er spielte; und andererseits sah ich den Implantologen, der all das, wovon der eine nur sprach, tatsächlich machte. Jeden Schritt nicht nur sprachlich wiedergeben konnte, sondern mit diesem Wissen, das man hat, wenn man etwas gefühlt hat, wenn etwas zu einer Erfahrung geworden ist.

Denn eine Erfahrung verändert uns.

Ich sage es noch einmal: Es reicht nicht, verstanden zu haben. Intellektuell verstanden zu haben, wie man ein Implantat setzt, ist nicht das Gleiche, als es erfahrungsgemäß verstanden zu haben, weil man es tatsächlich setzt.

Es reich nicht zu verstehen, dass du etwas loslassen sollst. Wenn du nicht gelernt hast, Dinge loszulassen und dich zu zentrieren, wirst du jedes Mal, wenn du getriggert wirst, automatisch in alte Verhaltensmuster zurückfallen.

Und wir wollen natürlich mit dem Schwersten anfangen. Wir wollen Beethoven spielen und nicht Tonleitern üben.

Wir wollen unsere tief verwurzelten emotionalen Wunden loslassen, aber schaffen es nicht einmal, uns nicht mehr über das schlechte Wetter oder den unverschämten Autofahrer zu ärgern. Oder darüber, dass der Partner den Geschirrspüler nicht ausgeräumt hat oder später gekommen ist, als ausgemacht.

Wir wollen unsere Kindheitstraumata loslassen, anstatt zu lernen, nicht täglich neue Dramen zu erzeugen.

Deshalb lass uns heute ein paar praktische Schritte durchgehen, damit du dich darin üben kannst, deine Gedanken und Emotionen nicht mehr ausufern zu lassen, und dich nach und nach von deinem Unwohlsein und dieser Unruhe zu befreien.

Praktische Schritte zur Überwindung der Unruhe

Ich habe dir eigentlich schon ein paar passende Beispiele zum Üben vorgestellt:

  • das schlechte Wetter,
  • der langsame Autofahrer vor dir,
  • der Geschirrspüler, der nicht ausgeräumt wurde,
  • die unfreundliche Bedienung in der Bäckerei,
  • die lange Schlange an der Kasse im Supermarkt,
  • ein Kommentar auf Social Media, der dich ärgert.

Fange mit diesen Dingen an. Sieh nur, wie viele Momente es tagtäglich gibt, in denen du deine »Tonleitern« üben, und dich auf die schwierigeren Augenblicke deines Lebens vorbereiten kannst.

Beobachte dein Inneres in diesen Momenten.
Und fange nicht an, die aufkommenden Gefühle zu rechtfertigen. Damit bekräftigst du sie nur.
Beobachte dich.

Was bedeutet es, wenn du innere Unruhe empfindest? Was spürst du in deinem Körper?

  • Anspannung in den Kiefermuskeln?
  • Ein Kribbeln in der Magengegend?
  • Sind da Gedanken, die sagen, dass das nicht sein sollte, dass du das nicht willst?

Beobachte das Programm innere Unruhe, das durch irgendeine Situation getriggert wurde. Lerne, dich in dieses Programm zu entspannen.
Entspanne die Kiefermuskeln, lass die Schultern fallen, richte den Fokus auf deine Atmung; fühle, wie der Bauch sich entspannt.

Lass die Gedanken in Ruhe. Wenn sie hartnäckig sind, bereite dir Mantras oder Affirmationen vor.

  • »Ich kann mit dieser Situation umgehen«,
  • »Ich lasse das Drama los«,
  • »Ich entscheide mich für inneren Frieden«

oder was auch immer für Worte hilfreich für dich sind.

Dein Programm, das du innere Unruhe nennst, ist bisher unbewusst abgelaufen. Wahrscheinlich schon seit sehr langer Zeit. Wenn du es ändern willst, musst du es dir zuerst bewusst machen. Und zwar jeden Schritt davon. Dann kannst du anfangen, die verschiedenen Schritte zu unterbrechen.

Ein Raucher, der zu rauchen aufhören möchte, muss im Endeffekt nur eines tun: Keine Zigarette rauchen. Es gibt aber viele Schritte, die all dem vorangehen: ins Geschäft gehen und die Schachtel kaufen, sie aufmachen, die Zigarette rausnehmen, sie anzünden und dann rauchen. Wenn er sich bei einem dieser Schritte sagen: »Nein, das will ich nicht«, ist das Programm unterbrochen worden.

Und das ist ein guter Anfang, aber: Jeder, der sich von einer Sucht befreit hat, wird dir sagen können, dass nicht die Schritte das Problem sind, sondern die Cravings.

Um die Cravings in den Griff zu kriegen, muss man eine völlig andere Einstellung angenommen haben. Wenn man sein Bewusstsein zum Beispiel dahingehend erweitert hat, dass man erkennt, dass Rauchen kontraproduktiv für einen gesunden Lifestyle ist und die sportliche Leistung mindert, auf die man Wert legt, dann wird es wesentlich leichter werden, die Cravings nicht mehr zu beachten.

Man kann ihnen etwas entgegensetzen, woran man wahrhaftig glaubt, weil es einem wichtig ist. In diesem Fall die körperliche Fitness und Gesundheit.

Das bedeutet es, eine neue Haltung einzunehmen. Und das funktioniert auch für deine innere Unruhe.

Du wirst gewisse Gedanken gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, wenn du weißt, welche negativen Auswirkungen sie auf dich haben.

Vielleicht wirst du über sie schmunzeln und dir sagen, ach ihr schon wieder – nein danke, ich habe kein Interesse, weil mir mein inneres Wohlbefinden wichtiger ist.

Aber du musst das wissen, und zwar nicht wie der Vertreter, der darüber reden kann – du musst es erlebt haben, wie schön es ist, frei von ihnen zu sein.
Wie viel besser es sich anfühlt, einen ruhigen Geist zu haben, als recht zu haben. Und sich durchzusetzen.

Ich weiß nicht, ob du schon einmal mit Menschen gesprochen hast, die sich von einer Sucht befreit haben; und die schließlich sagen: Jetzt endlich verstehen sie, was es bedeutet, frei zu sein. Sie dachten, sie waren frei, bis sie gesehen haben, dass die Sucht ihr ganzes Leben bestimmt hat.

Und übrigens, das heißt nicht, dass sie nie wieder Cravings haben. Aber sie fallen nicht mehr darauf rein – wenn sie es wahrhaftig durchschaut haben.

Du bist nicht deine Gedanken. Und auch nicht deine Emotionen.
Lass das nicht leere Worte bleiben. Finde es für dich heraus.

 

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Ich wünsche dir für deine Reise alles Liebe!

1Timothy Wilson et al., „Just Think: The Challenges of the Disengaged Mind,“ Science, Vol. 345, Issue 6192, 2014, pp. 75-77.

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